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Veröffentlichungsdatum: 
10.03.2017
Das Wort „Nachhaltigkeit“ existierte zu Zeiten Martin Luthers noch nicht – trotzdem erscheint die Wahl der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Konferenzort gut gewählt: Schließlich führten die Thesen und Aktivitäten des Reformators aus Wittenberg einen revolutionären gesellschaftlichen Wandel herbei, und den gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit befeuern wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie die Praxispartner und Praxispartnerinnen, die sich am 20. und 21. Februar 2017 bei der 2. NaWiKo-Austauschkonferenz trafen.

Das Konferenzprogramm war entsprechend prall gefüllt: Unter anderem standen Vorträge, Cluster-Treffen, Werkstattberichte, eine Panel-Diskussion und eine Ideen-Börse auf dem Programm. Gelegenheit zum Austausch boten vor allem die Kaffee- und Mittagspausen im Foyer des altehrwürdigen Melanchthonianums. Und natürlich die Stadtführung und das Abendessen, die den ersten Konferenztag beschlossen.
Der startete mit einem Grußwort von Prof. Dr. Gundula Hübner vom Institut für Psychologie der gastgebenden Universität, die zugleich auch im Projekt InNaBe mitarbeitet, sowie mit einem Appell Dr. Ralph Wilhelms vom DLR Projektträger an die Konferenzteilnehmenden, den Mehrwert der Forschungsprojekte für Wissenschaft und Gesellschaft noch stärker herauszustellen und dafür zu sorgen, dass die Forschungsergebnisse schneller in die Anwendung gelangen.

Unternehmen setzen zu wenig auf Nachhaltigkeit in der Produktion und Mitarbeiterbildung
Den inhaltlichen Auftakt übernahm Prof. Dr. Rainer Walz vom Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung (ISI). Er stellte eine Metastudie zum Stand der Transformation hin zu einer Green Economy in Deutschland vor. Zu diesem Zweck hatten er und sein Team Studien zum Verhalten von Unternehmen und Konsumenten ausgewertet. Bei einer Befragung im Verarbeitenden Gewerbe ging es darum zu identifizieren, inwieweit Umweltinnovationen in tatsächliches unternehmerisches Handeln umgesetzt worden sind. Das Ergebnis: Viele nutzen Energieeffizienzlösungen, wie zum Beispiel Abschaltautomatik, jeder 5. Betrieb nutzt zudem Ener-giemanagementsysteme. Mehr als 70 Prozent der befragten Unternehmen haben in den letzten Jahren jedoch keine Produktinnovationen mit einer verbesserten Umweltwirkung eingeführt. Damit sei die Dynamik seit 2008 rückläufig, was umweltinnovative Produkte betrifft, so Walz.

Bei einer weiteren Befragung ging es um die Frage, ob und wie Umweltmanagement auch über die Mitarbeiterführung gelebt wird. „Hier gibt es wenig Engagement und Kreativität, das umzu-setzen, etwa indem Mitarbeitende, die umweltinnovative Produkte erfinden, auch ein besseres Gehalt bekommen“, berichtete der Volkswirt Rainer Walz. Eine Fallstudie zu Geschäftsmodellen ergab zudem, dass es an nachhaltiger Management-Bildung mangelt.

Konsumenten sehen ‚öko‘ kritisch – und sorgen sich zunehmend um den eigenen Wohlstand
Die Auswertung verschiedener Studien zur Konsumentenperspektive zeigen, dass ‚öko‘ selbstverständlicher geworden zu sein scheint. Kundinnen und Kunden stehen Produkten, die als nachhaltig beworben werden, aber durchaus auch kritisch gegenüber, insbesondere wenn ein tatsächlicher Nachhaltigkeitsbeitrag nicht ersichtlich ist, sondern es nur Werbezwecken dient (Stichwort „Greenwashing“). Ob man ökologisch orientiert einkaufe oder nicht, hänge zudem stark von den Rahmenbedingungen ab, wie dem dafür nötigen Zeitaufwand. Die Befunde zeigen, dass man oft situationsabhängig und pragmatisch, nicht immer ökologisch einkauft, auch wenn das als immer wichtiger erachtet wird. Zugleich treiben viele Verbraucher Sorgen um den Erhalt des eigenen Wohlstands um. Als mögliche Maßnahme sei es vor allem wichtig, die Identifikation nachhaltiger Produkte zu verbessern.

Gefragt: politische Gestaltung, die Konzepte aus der Wissenschaft aufnimmt
Insgesamt reichten auf dem Weg zur Green Economy einzelne grüne Innovationen nicht aus, vielmehr seien gesellschaftsweite und strukturelle Veränderungen (Transformationen) erforderlich, fasste Walz zusammen. Diese wiederum erforderten ein hohes Umweltbewusstsein, entsprechende Einstellungen und die Bereitschaft zu Verhaltensänderungen. Unternehmen müssten anders geführt werden und organisiert sein. Gefragt sei insbesondere auch eine politische Gestaltung, zum Beispiel im Bereich Green Finance: „Die Umwelt muss preislich erfasst werden, indem schädliche Aktivitäten Geld kosten; außerdem könnte man privates Kapital für umweltfreundliche Unternehmensaktivitäten zur Verfügung stellen“, so Walz. Für die NaWi-Projekte bedeute dies vor allem, sich zu fragen: Wie gut lassen sich Konzepte in eine nachhaltiger orientierte wirtschaftliche Praxis übertragen; welche Rahmenbedingungen begünstigen oder hemmen Transformationen? „Wir brauchen Enthusiasmus plus nüchterne Analyse“, schloss Walz seinen einführenden Vortrag.

Den zweiten Teil des ersten Konferenztages bildeten in zwei parallelen Slots Werkstattberichte sowie die von den Projektleitenden anhand eines Inputs von Dr. Antonietta Di Giulio und Rico Defila (Universität Basel) zu Syntheseerfahrungen im Rahmen des BMBF-Förderschwerpunkts „Nachhaltiger Konsum“ erörterte Frage, wie ein Syntheseprozess zwischen den NaWi-Projekten möglichst mit Mehrwert und effizient gestaltet werden kann sowie welche Herausforderungen dabei auftreten können. Die zwei Werkstattberichte von Samuel Drempetic (NaMiRo) und Karin Stadler (INNOLAB) gaben Einblicke in ihre Projektarbeit. Während der Wirtschaftswissenschaftler ausführte, welche Fallstricke ökonomische Bewertungen mit sich bringen, berichtete Karin Stadler von den drei Living Labs ihres Projekts und wie sie dabei helfen, geeignete Nutzerprofile zu entwickeln.

Workshops und World-Cafés: Forschende und Praxispartner im Austausch
Der zweite Konferenztag bot auch den Praxispartnern die Gelegenheit zur Vernetzung. Während die Forschenden in thematisch unterschiedlichen Workshops über Synthesethemen und mögliche Syntheseprodukte unter anderem zum Thema nachhaltige Produktion/nachhaltiger Konsum und Geschäftsmodelle diskutierten, tauschten die Praxispartner in einem World-Café Projekterfahrungen aus und sammelten Anregungen, wie man Prozesse verbessern könnte. Vor der Mittagspause hatten die Konferenzteilnehmenden die Gelegenheit, sich bei einer Ideen-Börse im Open Space-Format im Untergeschoss des Melanchthonianums zu weiteren Synthese-relevanten Ideen auszutauschen, beispielsweise zu Fragen von Governance.

Die Ergebnisse der Themen-Workshops und des World-Cafés wurden zu Beginn des zweiten Teils des Konferenztages im Plenum vorgestellt. Kritisch anzumerken hatten die Praxispartner, dass aus ihrer Sicht Verbesserungsbedarf besteht, sie früher und enger in die Definition von Forschungsfragen einzubeziehen und gemeinsam mit ihnen ihre Rolle im Projekt zu klären und dadurch insgesamt stärker zu integrieren. Positiv bewertet wurde der Austausch mit anderen Praxispartnern. Zudem bringe die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft Glaubwürdigkeit für die eigene Arbeit. Angeregt wurde, eine Handreichung für die gemeinsame Arbeit zu entwickeln, zumal es auch Unterschiede bei den Praxispartnern gebe – manche sind als Verbundpartner enger mit dem Projekt verbunden und über Unteraufträge auch finanziell gefördert, während der Großteil assoziierte Partner sind, die über Interessensbekundungen am Projekt teilnehmen – nicht immer kontinuierlich und insbesondere aus eigenen Ressourcen heraus. Zudem sei es hilfreich, praxisrelevante Ergebnisse zu veröffentlichen, auch wenn sie (noch) nicht für ein wissenschaftliches Papier ausreichen. Für künftige Projekte wurde empfohlen, die Praxispartner bereits bei einem Kick-off zu involvieren, damit diese eine Gelegenheit haben, sich mit eigenem Input einzubringen.

Berichte aus den Synthese-Sessions: Positionen, Papiere, Produkte
Anschließend berichteten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus ihren Synthese-Sessions. Um auf die Potenziale von mehr Nachhaltigkeit aufmerksam zu machen, brauche es eine „unternehmensorientierte Kommunikation“. Unter Beteiligung mehrerer Projekte soll ein Politikpapier zu Rahmenbedingungen von nachhaltigen Geschäftsmodellen entstehen, das unter anderem Empfehlungen zur Skalierung gibt sowie Chancen und Risiken aufzeigt. Außerdem wurden Alternativen zu Geschäftsmodellen diskutiert: So gibt es zahlreiche Plattformen, Initiativen, Netzwerke und gemeinwohlorientierte Projekte, die kein Interesse daran haben, ihre Aktivitäten in Produkte münden zu lassen, mit denen Gewinn erwirtschaftet werden soll.

Im Workshop „Nachhaltige Produktion/nachhaltiger Konsum“ ging es darum, wie sich neue Akteure gewinnen und einbinden lassen, etwa über Festivals oder digitale Kanäle. Einig war man sich darin, dass die Wissenschaft eine Informationspflicht habe, insbesondere gegenüber der Politik: Um auf Fehlstellen in bestehenden Rahmenbedingungen aus wissenschaftlicher Sicht hinzuweisen, ist geplant, einen Offenen Brief zu Fehlstellen im Nationalen Programm Nachhaltiger Konsum aus Wissenschaftssicht anlässlich der Nationalen Konferenz „Nachhaltiger Konsum in Deutschland“ (23. März 2017, BMUB, BMJV, BMEL) zu veröffentlichen; später soll ggf. ein Policy Paper hinzukommen.

Auch die Teilnehmenden des Workshops „Sharing Economy“ planen, einen Policy Brief zu verfassen; darin soll es um Nachhaltigkeitseffekte gehen und um die Frage, wie neue Nutzerinnen und Nutzer motiviert werden können teilzunehmen. Zudem entstand die Idee, einen Transfer-Workshop zu veranstalten. Im Workshop „Nachhaltigkeitsbewertung“ wurde diskutiert, wie man soziale Nutzenkategorien (wie z.B. Sinnstiftung, Gemeinschaftserleben) besser in der Bewertung von Nachhaltigkeit berücksichtigen kann.

Die Teilnehmenden des Workshops „Transformationspfade/Volkswirtschaftslehre/Quantifizierung“ planen, Pfadabhängigkeit als Syntheseprodukt näher zu beleuchten. In zwei bearbeitenden Gruppen zu den Themen Energie/Wärme/Wohnen sowie Mobilität geht es dabei um folgende Fragen: Wie können weitere Projekte beteiligt werden, welcher zusätzlicher Nutzen entsteht? Wie gelingt schließlich die Transformation? Zu der Frage, was spezifische Nachhaltigkeitswirkungen der Projekte sein könnten, soll es eine Abfrage bei allen Projekten geben.
Im Nachgang zum Workshop „Reallabore/Narrative“ soll ein praxisorientiertes Papier zur Typologisierung entstehen, das sich an die beteiligten Projekte mit Reallaboren, und darüber hinaus an die Wissenschaft, richtet. Bei der Entwicklung eines Nachhaltigkeits-Narrativs, so die Empfehlung der Teilnehmenden, sollte der Prozess eher kreativ und formatoffen ausgerichtet sein.

Das Nachhaltigkeits-Narrativ war auch Thema der Diskussion „Zwischen Nachhaltigem Wirtschaften, Green Economy und Degrowth – wie könnte ein gemeinsames Narrativ aussehen?“, die den Abschluss der Konferenz bildete. Einen Bericht können Sie hier nachlesen.