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Der Weg zum regionalen, ökologischen und gemeinwohlorientierten Gemüseanbau
Simon Scholl Foto

Simon Scholl versorgt mit seiner Arbeit tausende Münchner – ohne selber Land zu besitzen. Die sieben Hektar Eigentumsfläche und elf Hektar Pachtfläche gehören nämlich dem Kartoffelkombinat, einer Genossenschaft, die er mit seinem Vorstandskollegen Daniel Überall und anderen Mitstreitenden aufbaute.

„Wir setzen auf Regionalität, bio und genossenschaftliche Selbstorganisation. Ökologisch gesehen brauchen wir dringend eine Agrarwende und viele Menschen haben das gespritzte Gemüse, welches aus großer Entfernung angekarrt wird, auch schlichtweg satt.“

Vor zehn Jahren sah es nicht danach aus, dass der großgewachsene Bayer einmal Gemüsekisten koordinieren und sich mit Pflanzenanbau beschäftigen würde. Der reisefreudige Betriebswirt beriet als interkultureller Trainer Unternehmen, die nach Indien expandieren wollten, organisierte Expeditionsreisen in Äthiopien und Events für einen deutschen Automobilhersteller in China. Gerade als Indien-Berater hatte er ein gutes Einkommen. Doch der Blick auf benachteiligte Regionen, verdorrte Felder und soziale Ungleichheit nährten in ihm den Wunsch etwas zu bewegen. Er kehrte 2009 nach Deutschland zurück und nahm sich eine einjährige Auszeit. „In dieser Zeit habe ich mein Leben verändert. Ich habe mich belesen und viele Nachhaltigkeitsevents besucht, dann mein Auto verkauft, angefangen mich vegetarisch zu ernähren und den Flugreisen abgeschworen.“

Gerade die Frage wie sich unsere Ernährungsweise nachhaltiger gestalten lässt, trieben ihn und Daniel an. Zusammen mit anderen Münchnern wollten sie eine selbstverwaltete Versorgungsstruktur gründen und mit dem Anbau von eigenem Gemüse starten – für sich und andere Bürger*innen. Die Ziele waren schnell gesteckt: Saisonal, regional biologisch, gemeinwohlorientiert und fair sollte das Gemüse sein – doch die Fläche fehlte.

Selbstverwaltete Versorgungsstruktur statt Betriebsaufgabe

Da meldete sich der Besitzer einer in die Jahre gekommenen Familiengärtnerei. Er sah seinen Betrieb mit großen betriebswirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Anstatt weiter alleine ums wirtschaftliche Überleben zu Kämpfen, ging er eine Kooperation mit dem Kartoffelkombinat ein, einer Genossenschaft, die sich stark an den Prinzipien der solidarischen Landwirtschaft (SoLaWi) orientiert. Bei Projekten der solidarischen Landwirtschaft finanzieren die Konsument*innen einen Bauernhof, von dem sie beliefert werden – meist in Form von Gemüsekisten. Häufig sind diese Projekte als Vereine organisiert. Das Kartoffelkombinat jedoch ist eine Genossenschaft. Das Team sieht sich als Sozialunternehmen. Die angestellten Gärtner*innen bekommen laut eigener Aussage 50 Prozent mehr Lohn als im Bayern-Durchschnitt. Auch bleiben sie ganzjährig angestellt, während sie in vielen anderen Betrieben über die arbeitsarmen Wintermonate entlassen werden. „Wir wollen das Soziale und Ökologische zusammendenken – unternehmerisch, aber nicht gewinnorientiert. Wir wissen am Jahresende, was für Kosten im nächsten Jahr auf uns zukommen. Sowohl die Kosten als auch die Ernte werden dann auf die Haushalte aufgeteilt.“ Nicht zuletzt sind so auch die Risiken auf vielen Schultern verteilt. Dezimiert die Braunfäule die Hälfte der Tomaten, so bleibt nicht eine Einzelperson auf dem Schaden sitzen. Auch überdurchschnittliche Ernten werden natürlich aufgeteilt und oft in gemeinschaftlichen Kochabenden verarbeitet.

Aktuell beläuft sich der Kostenbeitrag für einen Ernteanteil im Kartoffelkombinat auf 75 Euro im Monat. Dafür kann man sich wöchentlich seinen vorgepackten Ernteanteil in einem der mittlerweile über 130 Verteilpunkte abholen, in Ladengeschäften oder auch bei Privathaushalten. Ähnliche Projekte der SoLaWi lassen ihr Mitglieder das Gemüse meist in Depots selbst einwiegen, brauchen dadurch aber auch mehr Platz. Abokisten-Betriebe setzen hingehen auf einen Lieferservice bis an die Haustür, sind dadurch je nach Fahrtweg aber weniger umweltfreundlich.

Mitgärtnern? Aus Lust, nicht Not

Wie auch bei vielen anderen ähnlichen Projekten können beim Kartoffelkombinat die Mitglieder in der Gärtnerei mitmachen –jeden Sonntag zwischen April und Dezember. Besonders Familien nehmen das Angebot gerne an, buddeln und gärtnern dann in Großstadtnähe. Im Gegensatz zu manch anderer SoLaWi ist das Kartoffelkombinat wirtschaftlich nicht zwingend auf die Hilfe angewiesen. „Alle Arbeit, die im Kartoffelkombinat erledigt werden muss, wird fair bezahlt“. Doch gerade in der Hochsaison freut sich das Team über Entlastung.

Die Investitionen und laufenden Kosten des Kombinats sind nicht unerheblich. Neben den jährlichen Betriebskosten von 1,3 Millionen Euro, die über die Beiträge der aktuell 1.500 Mitglieder finanziert werden, fallen regelmäßig große Investitionen in die Infrastruktur an. Simon Scholl und Daniel Überall nahmen zwar einen Kredit bei einer öko-sozialen Bank auf, stemmen aber den überwiegenden Teil über Genossenschaftseinlagen. Eine Million Euro kam so bereits zusammen, um 2017 eine alte Baumschule zu kaufen, zu sanieren und eine Infrastruktur für den eigenen Gemüseanbau aufzubauen. Wer sich wöchentlich eine Gemüsekiste abholen will, muss zwingenderweise Genossenschaftsmitglied werden. Und wer es ist, hat eine einzelne Stimme – egal wie viele Genossenschaftseinlagen gezeichnet wurden.

Die 1.500 Bürger*innen, die sich Kartoffelkombinatsgemüse abholen, schaffen so bereits eine wirtschaftliche Tragfähigkeit des Kombinats. Es fehlen nur etwa 200 weitere um die bewirtschafteten Flächen von insgesamt 18 Hektar komplett auszulasten. Simon Scholl rechnet damit, dieses Ziel in den kommenden 18 Monaten zu erreichen.

In dem Projekt nascent thematisierte das Kartoffelkombinat auch sein Wirtschaftsmodell und dessen Wachstumsschmerzen. Ab einer bestimmten Größe der Genossenschaft fällt Partizipation etwas schwerer, so die Beobachtung. Auch kennen sich nicht mehr alle Engagierten mit Vornamen wie in der Anfangszeit. Die Genossenschaft etablierte daher kleinere Arbeitsgruppen, etwa zum Imkern oder dem Einkochen von Tomatensugo, in denen das persönliche Miteinander möglich ist.

Bis zu welcher Grenze kann das Kartoffelkombinat wachsen?

Außerdem trafen die Kombinatsangehörigen eine Entscheidung, die vielen jungen Unternehmenden radikal vorkommen mag: „Wir wollen nicht mehr wachsen. 1.800 Mitglieder ist für diese Genossenschaft die Obergrenze – für das soziale Gefüge und die Partizipationsprozesse. Natürlich gibt es auch eine Untergrenze, unterhalb der es wirtschaftlich schwierig ist zu überleben. In dem Raum zwischen beiden Grenzen gibt es hinreichend große Gestaltungsräume. Im Prinzip wollen wir so klein wie möglich und nur so groß wie nötig sein – bei fairen Löhnen. Das Spannungsfeld, in dem diese Organisationsgröße auszubalancieren ist, wird von Postwachstumsökonom Niko Paech das „Trilemma transformativen Größenmanagements“ genannt.

Das heißt aber nicht, dass es für das Wachstum der Idee und der Wirtschaftsweise Obergrenzen geben muss. Simon Scholl zieht sich nun aus der produzierenden Genossenschaft zurück und konzentriert sich auf den Kartoffelkombinats-Verein. In den kommenden Monaten will er dort mit Kollegen ein frei verfügbares Handbuch produzieren, welches beschreibt wie sich eine genossenschaftliche SoLaWi ähnlich dem Kartoffelkombinat aufbauen lässt. Scholl nennt das “horizontale Vervielfältigung“ – die Idee soll wachsen und sich verbreiten, nicht zwingenderweise das Unternehmen. Aber auch in München selber könnte es bald ein weiteres Kombinat geben. Verschiedene Stadtplaner zeigten großes Interesse, Scholl und sein Team bei der Quartiersentwicklung einzubeziehen. Frei nach dem Motto: gemeinschaftlich bauen – gemeinschaftlich grundversorgen.

„Ich kann nicht sagen wo das Kartoffelkombinat in zehn Jahren stehen wird. Grundsätzlich fänden wir es auch spannend, unsere Erfahrungen und damit die Prinzipien der gemeinschaftsgetragenen Landwirtschaft auch auf andere Versorgungsfelder zu übertragen. So können wir uns beispielsweise auch ein Brot-Kombinat vorstellen – aber auch eines für Kleidung, IT-Dienstleistungen oder Krankenversicherungen.“

Die Lust auf anderes Wirtschaften und intrinsische Motivation des Teams zeigen sich an vielen Stellen: Die Meisten der 28 Mitarbeitenden sind in das genossenschaftliche Unternehmen „hineingewachsen“. Bisher wurde nur zwei Bewerbungsgespräche geführt. Viele engagierten sich zunächst ehrenamtlich, wurden dann im Rahmen von Minijobs entlohnt und haben heute Festanstellungen inne – wobei die Meisten in Teilzeit arbeiten wollen.

IT-Fachleute auf dem Feld

Doch diese Kartoffelkombinatsmischung sorgt auch manchmal für einige Reibereien: Auf den Feldern und in der Organisation der Genossenschaft treffen viele Quereinsteiger, ehemalige IT-Fachleute, Physiker*innen oder Büroangestellte zusammen. Die wenigsten bringen langjährige Erfahrungen aus der Landwirtschaft mit, dafür umso mehr Projektionen, die das Kartoffelkombinat nicht aus Anhieb zu erfüllen vermochte. Doch mit einer gemeinsamen Lernkurve ließen sich auch Herausforderungen dieser Art meistern und die Ernten sichern.

„Würde ich das Kartoffelkombinat heute nochmals gründen, würde ich wohl an der ein oder anderen Stelle einen Organisationsentwickler mit dazu holen, um bestimmte Entwicklungstufen stärker zu reflektieren“, so Scholl. Heute gibt er sein Wissen an andere SoLaWis und ähnliche Projekte weiter – so auch bei den Nascent-Projekttreffen. „Solche Forschungsprojekte ermöglichen uns auch immer die Chance Feedback zu erhalten, sich zu inspirieren und die Teilnahme an sich ist ja bereits ein Zeichen der Wertschätzung“.

Jüngst hat der Kartoffelkombinat-Verein ein Netzwerk von genossenschaftlich organisierten Solawis ins Leben gerufen. Ziel dieses Netzwerkes ist es, sich noch besser kennenzulernen, regelmäßig auszutauschen, zu vernetzen und umso gemeinsam den Weg aus der gesellschaftlichen Nische zu gehen.

Ob solch ein Netzwerk zahlreicher werdender SoLaWis einmal der südkoreanischen Genossenschaft Hansalim ähnlich wird, einer Organisation die mittlerweile über 2300 landwirtschaftliche Betriebe zählt und zwei Millionen Menschen versorgt, vermag Simon Scholl nicht zu sagen: „Wir denken zwar groß, sind aber auch realistisch. Es muss schon noch eine ganze Menge passieren, bis unsere derzeitige Ernährungswirtschaft verdrängt ist und wir ein nachhaltiges Grundversorgungssystem etabliert haben. Wir bleiben auf jeden Fall dran!“

Das Münchner Kartoffelkombinat war Praxispartner im Projekt „Neue Chancen für eine nachhaltige Ernährungswirtschaft durch transformative Wirtschaftsformen“ (nascent). Simon Scholl wurde im Rahmen eines qualitativen Interviews für das Projekt befragt; er engagierte sich zudem bei verschiedenen nascent-Workshops und gab Einblicke in die Arbeit des Kartoffelkombinats. „Simon Scholl ist überzeugt, dass die Versorgung mit Lebensmitteln auf regionaler Ebene durch solidarische Formen des Wirtschaftens gelingen kann. Seine authentische und positive Ausstrahlung schließt jedoch auch Fragen zu Unsicherheiten nicht aus, wie zum Beispiel in der richtigen Größe des Kartoffelkombinats eine Balance zwischen wirtschaftlicher Tragfähigkeit und sozialem Miteinander zu finden.“, sagt Dr. Irene Antoni-Komar, Wissenschaftlerin bei nascent.
Jahr: 
2019