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Veröffentlichungsdatum: 
19.05.2017
Porträt Stefan Schridde
Stefan Schridde, ARGE REGIO (Kooperationspartner im NaWi-Projekt INNOLAB) (c) Stefan Schridde

Vielen Produkten, die heute hergestellt, vertrieben und zu Konsumzwecken erworben werden, wohnt ein „geplantes Verfallsdatum“ inne: Fön oder Handmixer geben plötzlich den Geist auf, obwohl sie erst ein paar Jahre alt sind. Stefan Schridde nennt das „geplante Obsoleszenz“ oder kurz: Murks.

Der Diplom-Betriebswirt und leidenschaftliche Murks-Bekämpfer ist mit seinem Unternehmen ARGE REGIO, das sich auf nachhaltige und partizipative Projektentwicklung spezialisiert hat, Kooperationspartner im NaWi-Projekt INNOLAB. Im Interview berichtet Stefan Schridde von der Erprobung einer neuen Applikation „Produktlupe“ in einem Supermarkt-Living Lab – und verrät, was der Einzelhandel beitragen kann, damit Kundinnen und Kunden nachhaltiger einkaufen.

Frage: INNOLAB testet, wie Living Labs für nachhaltiges Wirtschaften und Konsumieren genutzt werden können – unter anderem, indem vermeidbare Obsoleszenz reduziert wird. Sie haben sich damit beschäftigt, wie Informationen zu Obsoleszenz in Innovationsprozesse eingespeist und genutzt werden können. Dabei haben Sie sich auf die Perspektive der Konsument*innen konzentriert – was genau haben Sie da untersucht?

Stefan Schridde: Wir haben ein Assistenzsystem entwickelt und erprobt, mit dessen Hilfe sich die Kundinnen und Kunden im von uns genutzten realweltlichem Labor, einem Globus-Supermarkt, per App über die Produkte informieren konnten. Das war eine Art Produktlupe, mit der die Verpackungen gescannt werden. Hinterlegt waren Informationen zu allen möglichen Facetten von Nachhaltigkeit. Die Kundinnen und Kunden hatten die Möglichkeit, ein eigenes Profil anzulegen, in dem zum Beispiel verschiedene Vorlieben wie vegane Waren oder Allergien eingegeben wurden. Der Scan der Verpackung des Produkts hat dann gezeigt, ob es den eigenen Vorlieben entspricht, aber auch zusätzliche Informationen gegeben.

Frage: Zum Beispiel?

Stefan Schridde: Zahnpasta-Tuben haben heute eine deutlich größere Öffnung als früher, das heißt, sie „verführen“ zu mehr Verbrauch. Wir nennen diese Art der Obsoleszenz „Verbrauchsbeschleuniger“, das Produkt ist auf eine geringere Nachhaltigkeit ausgelegt. Wer eine Zahnpasta-Verpackung gescannt hat, bekam nun die bildlich unterstützte Information, dass beim Zähneputzen eine erbsengroße Menge Zahnpasta reicht. Allerdings wollten wir die Kundinnen und Kunden nicht nur „aufschlauen“. Die Frage, die wir uns gestellt hatten, war ja: Wie können wir Living Labs nutzen, um mehr Nachhaltigkeit beim Konsum zu erreichen? Dazu gehört auch, in den Dialog mit den Konsument*innen zu treten. Das ist auch ausdrücklich gewünscht, wie wir bei unserer Untersuchung sehen konnten. Wer im Supermarkt einkauft, wünscht sich die Möglichkeit, direkt am Regal Feedback zum Sortiment zu geben: zum Beispiel, dass ein bestimmtes Produkt unerwünscht ist.

Frage: Wie kann der Einzelhandel dazu beitragen, dass Kund*innen nachhaltiger einkaufen?

Stefan Schridde: Ein Supermarkt kann zum Beispiel sein Sortiment anders gestalten und mehr nachhaltige, frische und unverpackte Ware an einer prominenten Stelle im Laden anbieten. Ein Beispiel, das ich immer gerne aus meinem privaten Erleben nenne, ist Alnatura: Der Bio-Supermarkt hat seinen Zulieferern Auflagen zur Größe der Gläser gemacht. In den Regalen finden sich nicht alle möglichen Formen, sondern nur verschiedene Standardgrößen, die gut im Haushalt wiederverwertbar sind. Generell muss sich der Handel von der reinen Umsatzbeschleunigung abwenden und sein Sortiment aufräumen, also weniger und bessere Produkte anbieten! Zum Beispiel vier und nicht zehn Stabmixer wie in einem gängigen Elektromarkt. Er sollte sich stärker an der Nachhaltigkeitserwartung der Kundinnen und Kunden ausrichten und sorglosen Einkauf einfach machen. Das Sortiment kann zum Beispiel ein Regal mit „reparaturfreundlicher Ware“ anbieten. Oder es könnte ein Regal geben mit tauschbaren und eines mit nicht tauschbaren Handy-Akkus – anstatt Akkus nach Herstellern zu sortieren. Oder gleich eine ganze Etage: Dann finden die Kundinnen und Kunden in der ersten Etage nur nachhaltige Produkte.

Frage: Und wer billigere Wegwerfware will, muss in den zweiten Stock?

Schridde: Genau. Denkbar wäre auch eine deutliche Kennzeichnung am Regal mit Informationen, die über das hinausgehen, was auf einer Verpackung angegeben ist. Dabei könnten beispielsweise besonders reparaturfreundliche Ladegeräte als solche ausgewiesen werden und nicht nachhaltige Varianten entsprechend gekennzeichnet oder gesondert sortiert werden. Generell muss der Handel seine Beschaffungskompetenz verbessern: Warum soll der kaufende Bürger erst recherchieren, um im Regal nachhaltige Produkte zu erkennen? Der Handel kann die Erfahrung der Kundinnen und Kunden auch proaktiv nutzen, um sein Sortiment zu verbessern. Indem er den Kundinnen und Kunden im Regal und Verkaufsgespräch Feedback ermöglicht und dieses in seine Entscheidungen einbezieht, oder indem er Herstellern, deren Produkte bestimmte Nachhaltigkeitsstandards in der Nutzung nicht erfüllen, mit Auslistung droht. Der Handel muss sich vom Distributionspartner der Hersteller hin zum Beschaffungslogistiker einer nachhaltig orientierten Gesellschaft entwickeln. Nachhaltiger Konsum muss durch entsprechende Handelspraxis einfach und für den Bürger leicht werden.